Der erste Verfassungsschutzpräsident Otto John kam der Bundesrepublik nach vierjähriger Dienstzeit abhanden – im August 1954 tauchte er plötzlich in der DDR auf. War er entführt worden? Oder hatte er sich zum Überlaufen entschlossen? Die Wahrheit ist bizarrer. Weitere Details zu diesem Fall sowie die brisantesten Affären der deutschen Geschichte haben wir in unserer Sonderausgabe «Verschwörung und Skandale – Mätressen, Morde, Machteliten» für Sie aufbereitet. Hier mehr erfahren.

    _ von Helmut Roewer

    Als der erste Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Otto John, in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 1954 im feindlichen Ostberlin verschwand, war dies ein Skandal allererster Ordnung. Das Beben brachte die Adenauer-Regierung ins Wackeln. Ich hatte Anfang der 1980er Jahre die Gelegenheit, einen Blick auf diese Erschütterungen zu werfen, denn auf meinem Schreibtisch waren bündelweise Behörden- und Geheimdienstakten gelandet: Ich sollte eine Anfrage aus dem Bundespräsidialamt beantworten.

    Die Amerikaner kontrollierten den BND, die Briten den Verfassungsschutz.

    Dort erwog man eine Gnadenrente für den wieder in Westdeutschland lebenden Überläufer. Schnell wurde mir als damals noch jungem Beamten klar, dass der Mann im politischen und medialen Establishment der Republik einflussreiche Gönner hatte. Also studierte ich erst einmal die internen Dokumente. Neben den ohnedies bekannten eher dürftigen Tatsachen schälte sich eine bizarre Geschichte aus dem Papierwust.

    An der Leine des MI6

    Der 1909 in Marburg an der Lahn geborene Otto John wurde Jurist. Dank einflussreicher Sponsoren war sein Berufsweg sogleich auf Erfolgskurs getrimmt: Der 28-Jährige begann seine Karriere nicht an irgendeinem Feld-, Wald- und Wiesenamtsgericht, sondern als Syndikus der Deutschen Lufthansa. All dies 1937, und die Fluglinie war damals schon ein aufstrebendes, weltweit operierendes Unternehmen. Das alles erwies sich für John als überaus praktisch, denn der Job bewahrte ihn davor, zur Wehrmacht einrücken zu müssen.

    Der Fall John war der größte bundesdeutsche Geheimdienstskandal der 1950er Jahre. Foto: Bild

    Als Lufthansa-Angestellter konnte er sich praktisch ungehindert in Europa bewegen – so weit jedenfalls, wie deutsche zivile Flugzeuge während des Krieges flogen, zum Beispiel nach Madrid und Lissabon. Auf diese Weise wurde der Jurist für Geschäftsleute nützlich, die, Krieg hin oder her, ihren grenzüberschreitenden, meist illegalen Geschäften nachgingen. Nachrichtendienstlich gesprochen, wurde John deren Kurier.

    Selten fällt einer in einem derartigen Gewerbe nicht auf, zumal wenn er sich in Gegenden bewegt, die klassische Agententummelplätze sind. Wann der Deutsche bei solcher Gelegenheit beim britischen Auslandsdienst MI6 andockte, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Dass er es tat, kann man immerhin aus der Fallakte KV2/2465 des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 und dem Umstand schlussfolgern, dass sonst seine 1944 erfolgte Ausschleusung aus dem Reich und die nahtlose Integration in die antideutsche Propagandamaschinerie in London kaum erfolgt wäre.

    In der Tat hatte John im Juli 1944 allen Anlass, sich aus Hitlers Machtbereich abzusetzen, denn er gehörte zum entfernten Mitwisserkreis der Verschwörung des 20. Juli 1944 – jedenfalls ist dies nach dem Krieg mit Nachdruck so gesagt worden. Seinen Bruder Hans John kostete diese Flucht das Leben: Er wurde im August 1944 festgenommen und in den letzten Kriegstagen im Untergangstaumel des Dritten Reiches in Berlin erschossen.

    Otto John denunzierte in Ostberlin die Bundesrepublik als nahtlose Fortsetzung des Dritten Reiches.

    Im November 1944 erreichte John die rettenden britischen Inseln. Seine neuen Herren hatten Großes mit ihm vor. Zunächst musste er sich jedoch bewähren. Als mit Kriegsende seine Propaganda-Aufgaben überflüssig wurden, nahm der Jurist im Solde Londons an den Nürnberger Prozessen teil und wurde später Anklagevertreter gegen den deutschen Feldmarschall Erich von Manstein, der programmgemäß in Hamburg zu einer Zuchthausstrafe verurteilt wurde. Nicht jeder in Deutschland fand solche Parteinahme für die Siegerjustiz lustig.

    Der schöne Otto

    Während dieser Zeit steckten die Besatzungsmächte ihre Claims in Deutschland ab: Die Amerikaner schufen mit Hilfe von Reinhard Gehlen den Auslandsgeheimdienst BND, die Briten dagegen wollten einen von ihnen dominierten Inlandsdienst nach dem Vorbild des MI5 aufbauen. Zu diesem Zweck erließen die Militärgouverneure im April 1949 eine Weisung, den sogenannten Frankfurter Polizeibrief. Innerhalb von Tagesfrist gerieten die einschlägigen Bestimmungen noch vor der Schlussabstimmung kommentarlos ins Bonner Grundgesetz, wo man sie noch heute in den Artikeln 73 und 87 nachlesen kann.

    Der Osten war froh, den seltsamen Überläufer wieder loszuwerden.

    Gehorsam beschloss der erste Deutsche Bundestag dann auch ein einschlägiges Behördenerrichtungsgesetz – bei der Besetzung der Spitzenposition in dem neuen Nachrichtendienst hatte er allerdings nichts mitzureden. Über dergleichen bestimmten die Briten. Ihr Mann war Otto John. Im Dezember 1950 trat er seinen Dienst an. Dass er sich im Sinne seines Landes oder seiner Hintermänner bewährte, wird niemand ruhigen Gewissens behaupten können.

    Sicher, der neue Chef hatte es nicht leicht: Auch auf ihn traf die Regel zu, dass eine lupenreine Gesinnung noch lange keinen guten Behördenleiter ausmacht. Vielleicht ist sogar das Gegenteil richtig. Später wurde gemutmaßt, John sei in der eigenen Behörde von alten Nazis umzingelt gewesen.

    Solcherlei Gerede ohne belastbare Belege sollte wohl sein Dilemma verkleistern helfen, dass das Schwelgen in Widerstandserinnerungen nur in den seltensten Fällen bei der Führung eines Repressionsapparates hilft. Bei John kam hinzu, dass er dem Alkohol mehr, als gut tut, zugetan war. Allzu aussagekräftig war auch sein Spitzname in der Behörde: der schöne Otto. Abfälliger ging’s kaum.

    Otto John: «Ich habe mich nach reiflicher Überlegung entschlossen, in die DDR zu gehen und hier zu bleiben, weil ich hier die besten Möglichkeiten sehe, für eine Wiedervereinigung und gegen die Bedrohung durch einen neuen Krieg tätig zu sein.»
    Foto: picture-alliance / dpa

    Am Tag seines Verschwindens hielt sich der Verfassungsschutzchef in Westberlin bei einer Gedenkveranstaltung zum 10. Jahrestag des 20. Juli 1944 im Bendlerblock auf, wo der Kern der Militärverschwörer rund um Stauffenberg Dienst getan hatte. Von hier aus ging es in Kneipen – und sodann in den Zustand der Weinerlichkeit. Unter Anleitung des Berliner Modearztes, Jazztrompeters und Trinkkumpans

    Wolfgang Wohlgemuth kutschierte man im Auto über die Sektorengrenze – ein Betrunkener mit dem Katzenjammer des Scheiterns, für das er andere verantwortlich machte. Doch post festum erscholl der Chorus seiner Sympathisanten: Der arme Kerl sei betäubt und entführt worden, meinten die einen. Die anderen hielten dagegen, der vermeintliche Widerstandskämpfer habe es im Verfassungsschutz nicht länger ausgehalten, da es sich bei diesem nur um eine umetikettierte Gestapo handele.

    Zu solchem Verschwörungskram hätte sicher auch gut gepasst, dass besagter Wohlgemuth 1945 eine super-prominente Praxis in der Berliner Uhlandstraße übernommen hatte – die des Hiltler-Leibarztes Theodor Morell. Doch solcherlei Verbindungslinien zu ziehen, war wohl selbst für die begabtesten Verschwörungsspezialisten ein Salto zu viel. Deshalb schnell zurück zur vermeintlichen Kidnappergeschichte: Die Lektüre sowjetischer KGB-Akten und des MfS-Raritätenkabinetts lässt für die Entführungsversion wenig Platz.

    Die Russen waren über den Neuzuwachs ebenso indigniert, wie es seine englischen Hintermänner über den Verlust waren. Man machte dann im Osten aus der Not eine Tugend und ließ John am 11. August 1954 auf einer international beachteten Pressekonferenz in Ostberlin auftreten, wo er den westdeutschen Teilstaat als nahtlose Fortsetzung des Dritten Reiches und die westdeutsche Regierung der Angriffslüsternheit bezichtigen konnte. Jegliche Entführungsgerüchte wies er von sich (womit er die Wahrheit sagte).

    Rudolf Heß als Gefangener.
    Foto: Library of Congress

    Anschließend wurde der seltsame Überläufer nach Russland ausgeflogen. Seine Vernehmungen durch den KGB dauerten vom 24. August bis zum 22. Dezember 1954. Danach waren die sowjetischen Geheimdienstler davon überzeugt, dass sie ihn nicht gebrauchen konnten: Was er zum Besten gab, war kaum verwertbar, denn über die Struktur des von ihm geführten Verfassungsschutzes wusste er wenig bis nichts, erst recht nichts über dessen Operationen.

    Mit Recht wurde er als harmloser Frühstücksdirektor eingeschätzt, den man bestenfalls weiter als Einflussagenten nutzen könne. Folglich wurde John in das sowjetische Teildeutschland rücküberstellt. Dort schrieb man für ihn die Propagandaschrift Ich wählte Deutschland. Heute wäre Kommunisten ein solcher Titel nicht mehr zuzutrauen – aber damals enthielt die DDR-Hymne noch die Worte «Deutschland, einig Vaterland»…

    In Ostberlin gelang es Johns früherem britischen Führungsoffizier, dem Journalisten Denis Sefton Delmer, zu seinem Ex-Agenten erneut Kontakt aufzunehmen und den Wankelmütigen zur Rückkehr in die Bundesrepublik zu überreden. Im präparierten Kofferraum des für diesen Zweck angeheuerten Dänen Henrik Bonde-Heniksen gelang die Flucht.

    Heimkehr und Gefängnis

    Während man bei der SED sichtlich erleichtert war, den unbequemen Gast los zu sein, sah man im Westen den zwischenzeitlichen Ausflug des Verfassungsschutzpräsidenten eher unsportlich. Er wurde unverzüglich verhaftet, und am 22. Dezember 1956 verurteilte ihn der Bundesgerichtshof wegen Landesverrats zu einer vierjährigen Zuchthausstrafe. Das war typische Ergebnisjurisprudenz, denn eigentlich konnte man John die Tathandlung, das Ausplaudern von Staatsgeheimnissen, nicht nachweisen. Immerhin war das schlechte Gewissen hierüber groß genug, dass man den Delinquenten nach zwei Jahren Haft auf freien Fuß setzte.

    Otto John und Rudolf Heß

    Bundespräsident Richard von Weizsäcker erkannte Otto John 1986 die beantragte Gnadenrente zu. Ein anderer durfte bei dem ehemaligen Wehrmachtsoffizier nicht auf Milde hoffen: Weizsäcker ließ in einer denkwürdigen Rede zum 8. Mai 1985 auch die Westdeutschen durch die Siegermächte 1945 befreien – ein Privileg, das bis dato nur die Ostdeutschen genossen hatten. Im Entwurf derselben Rede wurde Gnade für den letzten Insassen der Spandauer Festung gefordert – dieser Mann hieß Rudolf Heß; der Hitler-Stellvertreter saß seit 44 Jahren hinter Gittern. Doch die Worte aus dem Entwurf sind schließlich nicht über die samtweichen Lippen des Präsidenten gekommen.

    Nun sollte es noch rund 25 Jahre dauern, bis man sich in Westdeutschland an den Widerstandskämpfer John glaubte erinnern zu müssen. So kam es zu der denkwürdigen Geschichte mit der Gnadenrente, die ich eingangs erzählt habe. – Otto John ist am 26. März 1997 als 88-Jähriger in Innsbruck gestorben.

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    3 Kommentare

    1. Göbeke-Teichert am

      Uuuuh, der Otto-John-Artikel im leichten Stile einer Financial Times geschrieben, kurz, informativ unterhaltsam und immer mit einer Prise Sarkasmus…

    2. Gelebte deutsche Einheit und natürliche deutsch-russische Zusammenarbeit, personalisiert in Otto John, wie später in Herbert-Willy Frahm-Brandt und Günter Guillaume.