Was Medien in ihren Nachrufen auf Martin Walser ignorierten, sind die Gedankengänge seiner denkwürdigen Rede in der Frankfurter Paulskirche am 11. Oktober 1998. Der Schriftsteller erhielt damals den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Seine Ausführungen (nachfolgend etwas gestrafft, Zwischenüberschriften von unserer Redaktion) sind in die COMPACT-Sonderausgabe „Geschichtslügen gegen Deutschland“ eingeflossen. Hier mehr erfahren.
Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird. Könnte es sein, dass die Intellektuellen, die sie uns vorhalten, dadurch, dass sie uns die Schande vorhalten, eine Sekunde lang der Illusion verfallen, sie hätten sich, weil sie wieder im grausamen Erinnerungsdienst gearbeitet haben, ein wenig entschuldigt, seien für einen Augenblick sogar näher bei den Opfern als bei den Tätern? Eine momentane Milderung der unerbittlichen Entgegengesetztheit von Tätern und Opfern. Ich habe es nie für möglich gehalten, die Seite der Beschuldigten zu verlassen.
Von der Schuld-Routine
Manchmal, wenn ich nirgends mehr hinschauen kann, ohne von einer Beschuldigung attackiert zu werden, muss ich mir zu meiner Entlastung einreden, in den Medien sei auch eine Routine des Beschuldigens entstanden. Von den schlimmsten Filmsequenzen aus Konzentrationslagern habe ich bestimmt schon zwanzigmal weggeschaut.
Kein ernst zu nehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, dass sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt.
Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen. Wenn ich merke, dass sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf Motive hin abzuhören und bin fast froh, wenn ich glaube, entdecken zu können, dass öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung.
Jemand findet die Art, wie wir die Folgen der deutschen Teilung überwinden wollen, nicht gut und sagt, so ermöglichten wir ein neues Auschwitz. Schon die Teilung selbst, solange sie dauerte, wurde von maßgeblichen Intellektuellen gerechtfertigt mit dem Hinweis auf Auschwitz. (…)
Missbrauch als Moralkeule
Und mir drängt sich, wenn ich mich so moralisch-politisch gerügt sehe, eine Erinnerung auf. Im Jahr 1977 habe ich nicht weit von hier, in Bergen-Enkheim, eine Rede halten müssen und habe die Gelegenheit damals dazu benutzt, folgendes Geständnis zu machen: „Ich halte es für unerträglich, die deutsche Geschichte – so schlimm sie zuletzt verlief – in einem Katastrophenprodukt enden zu lassen.“ Und: „Wir dürften, sage ich vor Kühnheit zitternd, die BRD so wenig anerkennen wie die DDR. Wir müssen die Wunde namens Deutschland offenhalten.“
Das fällt mir ein, weil ich jetzt wieder vor Kühnheit zittere, wenn ich sage: Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung.
Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets. Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft? In der Diskussion um das Holocaustdenkmal in Berlin kann die Nachwelt einmal nachlesen, was Leute anrichteten, die sich für das Gewissen von anderen verantwortlich fühlten.
Unangemessene Monumentalisierung
Die Betonierung des Zentrums der Hauptstadt mit einem fußballfeldgroßen Albtraum. Die Monumentalisierung der Schande. Der Historiker Heinrich August Winkler nennt das „negativen Nationalismus“. Dass der, auch wenn er sich tausendmal besser vorkommt, kein bisschen besser ist als sein Gegenteil, wage ich zu vermuten. Wahrscheinlich gibt es auch eine Banalität des Guten.
Welch ein wunderbarer Nachruf auf einen großen Deutschen! Ruhe in Frieden, Martin Walser. Seine Rede ist wortgetreu dokumentiert in „Geschichtslügen gegen Deutschland“. Hier bestellen.
9 Kommentare
"Von den schlimmsten Filmsequenzen aus Konzentrationslagern habe ich bestimmt schon zwanzigmal weggeschaut."
Hätte er richtig hingeschaut, wären ihm vllt. bei einigen von Alfred Hitchcocks Gruselfilmen sogar hier und da Cat D-2 Bulldozer aus dem Modelljahr 1946/47 aufgefallen.
Trotz "Glauben" kein Heilsversprechen (Vergebung der Sünden) gehört zu den "Besonderheiten" der BRD-Staatsreligion. /;=)
Hinter dem Nationalsozialismus verstecken sich viele Übeltäter, etwa große Kirchen mit ihren Kreuzzügen und ihrem Dreißigjährigen Krieg und ihrem Konkordat mit dem Nationalsozialismus, das ein gutes Geschäft für beiden Seiten war und für die großen Kirchen noch immer ist. Das päpstliche Führerprinzip war bewusst und ausdrücklich Adolfs Vorbild. Die Britenherrscher verstecken ihren blutigen und räuberischen Kolonialismus hinter dem Nationalsozialismus, der von britischen Kampfideologen und Rassenideologen inspiriert war. US-Kreise verstecken ihr Plünderbankstertum hinter dem Nationalsozialismus, das mit seinen Kriegskrediten an Frankreich im ersten Weltkrieg Ursache der ruinösen Reparationen des Versailler Vertrages und 1929 der Verwicklung in die US-Wirtschaftskrise war. Die gute Zusammenarbeit vieler US-Unternehmen und Mussolini im Kampf gegen Gewerkschaften wird ebenfalls hinter dem Nationalsozialismus versteckt, wie auch die Fortsetzung der globalen Ausbeutung durch das Bretton-Woods-Geldsystem und die Kriege gegen Korea, Iran und Vietnam.
Die ganze Schöpfung ist "Führerprinzip", noch nicht gemerkt ? Null Mitspracherecht der Geschöpfe beim Schöpfer. Und ? Was dagegen ? Wirres Zeug aus dem Querdenker- Milieu. Die Kreuzzüge waren eine Sternstunde Europas.
@Soki (in memoriam Heidi Heidegger)
Du verwechselst den Schöpfer mit dem größten Brückenbauer. In seiner Sekte gilt das Führerprinzip.
Der größte Prophet allerdings hinterließ die völlige Freiheit aller "Geschöpfe".
Merkst Du was?
Die Kreuzzüge, hier besonders der Kinderkreuzzug, waren ein Desaster. Nur zum Erhalt und der Erweiterung der Macht der Sekte mit Führerprinzip.
Kusch, Striga, du hast keine Stimme, ad bestias. Kinder – "Kreuzzug", lächerlich. Der 1. Kreuzzug war ein voller Erfolg und befreite Jerusalem für 88 Jahre. Brückenwärter, nicht -bauer.
Walser’s großartige Rede war kein Afront, sondern eine längst fällige Klar- und Bloßstellung unserer pathologischen "Erinnerungskultur".
Die getroffen Hunde haben gejault.
Bei mir bleibt der Name Martin Walser positiv in Erinnerung. Weiß noch mit dem Erscheinen von Daniel Goldhagen und den Thesen "Land der Täter", "Tätervolk", "Verbrecher-Gen" hat sich die komplette BRD-Politprominenz ängstlich geduckt, haben das alles so stillschweigend hingenommen. Nicht Martin Walser, er stand für einen öffentlichen, für so manche unbequemen Dialog bereit.
Gerade das in der Coronazeit zu Tage getretene Verhalten der lautstarken Walser-Kritiker, ihre Äußerungen und ihr Umgang mit den Unangepassten haben diese Herrschaften, die eine "ewige (Erb)Schuld" der Deutschen proklamieren, als das entlarvt, was SIE selbst sind: geistige Nachfolger der Nazis,
Die lautstark bei jeder Gelegenheit über historische Verbrechen ANDERER schwadronieren, aber jederzeit bereit sind , solche Verbrechen selbst zu wiederholen. Sie haben damit jede Glaubwürdigkeit und Rechtfertigung verloren. Zum Glück der damaligen Bevölkerungsmehrheit, die nicht in die Untaten der Nazis aktiv verstrickt war, verfügten letztere noch nicht über die HEUTE alltäglichen und viel weitreichenderen Möglichkeiten der Beeinflussung und des Drucks. Halsstrafen für Unfolgsame wurden damals nicht nur " angedacht".
Wer selbst im Glashaus sitzt, sollte also besser nicht mit Steinen werfen….
So schlimm wie die Heutigen waren die Nazis gar nicht…