Das erst vor wenigen Monaten auf der Insel Fünen entdeckte Runenschwert zählt zu den ältesten Relikten mit germanischen Schriftzeichen. Diese dienten nicht nur der Kommunikation, sondern hatten auch eine magische Bedeutung. Alles über Kultur und Lebensart unserer Vorfahren können Sie in COMPACT-Geschichte «Die Germanen» lesen. Hier mehr erfahren.

    Hinter der Brücke über den Kleinen Belt beginnt das Märchenland: Reetgedeckte Kapitänshäuser säumen die Kaimauern am Hafen, dazwischen Fischräuchereien, die Makrelen und Heringe feilbieten. Bis zum Horizont sieht man im Frühjahr knallgelbe Rapsfelder, mittendrin Farbtupfer von lila Flieder, im Sommer gesellen sich roter Mohn und Stockrosen hinzu.

    Über einhundert Herrenhäuser und Schlösser gibt es hier – und das Geburtshaus von Dänemarks bekanntestem Geschichtenerzähler. In der Altstadt von Odense wuchs Hans Christian Andersen auf und ging dort zur Schule, bis er im zarten Alter von 14 Jahren nach Kopenhagen übersiedelte. Nun ist die Insel Fünen noch um eine Attraktion reicher: Archäologen fanden dort unlängst ein Schwert mit Runeninschrift, das mehr als 1.900 Jahre alt ist – die Fachwelt spricht von einem Jahrhundertereignis.

    Der Skarthe­stein im Wikingermu­seum Haithabu. Gefunden wurde er in Busdorf bei Schleswig und ziert seitdem das Wappen der Gemeinde. Foto: picture alliance / Klaus Rose

    Die Schrift der Wikinger

    Das ist nicht übertrieben, denn auf dem etwa zehn Zentimeter langen Fragment, das aus einem Urnengrab bei Tietgenbyen östlich von Odense geborgen wurde, findet sich eine der frühesten Spuren der germanischen Schriftzeichen überhaupt.

    Eingeritzt sind fünf Runen, die das Wort ᚺᛁᚱᛁᛚᚨ («hirila») bilden, was so viel wie «kleines Schwert» bedeutet. Um das Jahr 150 n. Chr., als im fernen Rom Kaiser Antonius Pius regierte, wurde die Waffe laut Archäologen für einen Edelmann angefertigt. Einem gewöhnlichen Nordmann hätte man eine derart wertvolle Gabe nicht auf seine letzte Reise mitgegeben. Die Herstellung von Schwertern erforderte viel Zeit und technisches Know-how – es waren echte Kostbarkeiten.

    Der Sensationsfund von Tietgenbyen steht auf einer Stufe mit anderen alten runenverzierten Gebrauchs- und Schmuckgegenständen, die vor allem auf Fünen, in Jütland, Südschweden und Schleswig-Holstein entdeckt wurden. In Vimose, einem Moor etwa zehn Kilometer nordwestlich von Odense, fand man Mitte des 19. Jahrhunderts nach Torfstecharbeiten neben zahlreichen Waffen wie Schildbuckeln und Lanzenspitzen einen Kamm mit Runenzeichen, der auf die Zeit um 150 bis 200 n. Chr. datiert wird. Die 1979 im Magazin des archäologischen Landesmuseums Schloss Gottorf in Schleswig zufällig entdeckte Fibel von Meldorf (Dithmarschen), eine bronzene Gewandspange, stammt aus dem ersten Jahrhundert nach der Zeitenwende.

    Etwas jünger ist eine eiserne Speerspitze, auf der das Wort ᚱᚨᚢᚾᛁᛃᚨᛉ («raunijaR»; der Wortstamm «raun-» bedeutet «versuchen» oder «erproben») eingeritzt ist. Dieses Waffenfragment wurde 1890 in einem Grab aus der Zeit um 200 n. Chr. im norwegischen Øvre Stabu (Oppland) gefunden.

    Dass ein Schwerpunkt der Funde bisher bekannter Inschriften mit den altnordischen Zeichen im heutigen Dänemark und im Süden Skandinaviens liegt, ist vor allem durch die dort besonders ausgeprägte Tradition des Errichtens von Runensteinen begründet. Aufgestellt wurden solche Monumente ab der nordischen Eisenzeit (750 v. Chr. bis 1025 n. Chr.) und zur Wikingerzeit zwischen dem 5. und 12. nachchristlichen Jahrhundert.

    Runen: Die geheimnisvollen Schriftzeichen unserer germanischen Vorfahren. Foto: Michiru13 | Shutterstock.com

    Die mit Ornamenten oder Bändern verzierten Steine wurden meist zum Gedenken an Verstorbene oder Gefallene gesetzt, aber auch als Denkmäler zur Hervorhebung eigener Leistungen. Besonders beeindruckend ist der Skarthestein im Wikingermuseum Haithabu an der Schlei. Dort, in der Nähe der heutigen Stadt Schleswig, befand sich einst eines der bedeutendsten Zentren der aus Schweden stammenden Waräger. Die um 770 n. Chr. gegründete Siedlung am Haddebyer Noor stand im Mittelpunkt eines Handelsnetzes, das sich später über ganz Europa erstreckte und bis in den Orient reichte.

    Man tauschte Güter wie Honig, Wachs, Bernstein, Felle, Tierhäute und Waffen gegen Silber, Seide, Brokat, Gewürze, Helme und Rüstungen. Der Skarthestein wurde 1857 südlich des Ortes Busdorf gefunden und trägt die altdänische Runeninschrift: «König Sven setzte diesen Stein nach {zum Gedenken an} Skarthe, seinem Gefolgsmann, der nach Westen {England} gefahren war, aber nun fiel bei Haithabu.» Gemeint ist entweder Sven Gabelbart oder Sven Estridsson. Beide waren dänische Könige im 11. Jahrhundert nach der Zeitenwende.

    Herr der Magie und der Runen: Um aus der Quelle der Weisheit trinken zu dürfen, opferte Göttervater Odin/Wotan ein Auge. Er gilt auch als Schöpfer der Runen. Hier in einer Darstellung von Hans Thoma (1839–1924) aus dem Jahr 1869. Foto: Repro COMPACT

    Odins Selbstopfer

    Runen waren allerdings nicht nur in Skandinavien gebräuchlich, sondern auch in anderen Regionen des germanischen Raumes, etwa entlang des Rheins, bei den Alemannen, im heutigen Bayern, in Brandenburg und Thüringen sowie in Pommern, Schlesien und Böhmen. Entsprechende Funde im Norden und Osten lassen sich auf die Zeit vor der Völkerwanderung (200–500 n. Chr.), die im Süden und Westen auf das Ende jener Epoche (500–700 n. Chr.) datieren.

    Dabei dominierte das aus 24 Buchstaben bestehende ältere Futhark – benannt nach den die ersten sechs Zeichen der Runenreihe (ᚠᚢᚦᚨᚱᚲ, F–U–TH–A–R–K) – im mittel- und nordeuropäischen Raum, während die Wikinger hauptsächlich das jüngere Futhark mit 16 Zeichen verwendeten. Darüber hinaus war in Britannien ab dem 5./6. Jahrhundert n. Chr. das Anglofriesische Futhorc in Gebrauch, das 31 Runen umfasste, aber nur ungefähr bis zum Jahr 1000 verwendet wurde.

    Während sich das jüngere Futhark ab dem Beginn der Wikingerzeit zu einer reinen Gebrauchsschrift entwickelte, sind von den heute bekannten über 6.500 Runendenkmälern nur etwa 350 mit Zeichen des älteren Futharks versehen und somit dem germanischen Altertum und der Völkerwanderungszeit zuzurechnen.

    Dass viele dieser älteren Inschriften nur bedingt verständlich sind, liegt einerseits am oft schlechten Erhaltungszustand der Objekte, vor allem aber am weitgehenden Fehlen orthografischer Regeln, der Tendenz zu Abkürzungen und der geringen Länge der Sentenzen, die oft nur ein Wort umfassen.

    Entstanden sein sollen die Runen nach Vorstellung unserer Ahnen auf übersinnliche Weise. In «Odins Runenlied» in der Hávamál der Lieder-Edda ist dazu folgende Erzählung überliefert: Odin, der höchste aller Götter, gab sein Auge für einen Schluck aus dem Brunnen des Mimir – dem Hüter der Weltenesche Yggdrasil –, um Weisheit zu erlangen.

    In Trance durchbohrte er sich daraufhin mit seinem heiligen Speer und trieb diesen dann durch den Stamm des Baumes, der den gesamten Kosmos verkörpert. Nach neun Tagen und Nächten bekam er schließlich eine Vision: «Ich nahm die Runen auf, / nahm sie schreiend / und fiel wieder herab.» Der Gott Heimdall brachte das Wissen über ihren Gebrauch schließlich den Menschen.

    So leitet sich denn auch die Bezeichnung «Rune» vom altnordischen «rúnar» ab, was «magisches Schriftzeichen» bedeutet. Seine Wurzeln hat der Begriff im urgermanischen Wort «runo», das mit «Geheimnis» übersetzt werden kann. Diese etymologische Herleitung wie auch die mythische Herkunftsgeschichte zeigen, dass unsere Vorfahren ihren Buchstaben – neben Laut-, Begriffs- und Zahlenwerten – eine vierte Ebene beimaßen: Sie wurden auch als Zauberzeichen angesehen. Insbesondere die Runen des älteren Futharks wurden von den Germanen auch für magische Zwecke verwendet und finden sich auf vielen Amuletten und anderen Artefakten, mit denen Schutz gewährt oder Segen gespendet wurde.

    Vor allem jedoch wurden die Zeichen für das sogenannte Runenorakel verwendet, bei dem kleine Hölzer, Kefli genannt, mit eingeritzten Runen geworfen und aus ihnen die Zukunft gelesen wurde. Unsere Wörter «Buchstabe» und «lesen» leiten sich aus dieser Tradition ab, denn der Runenwerfer hob drei dieser Stäbchen auf, um sie zu lesen – im Sinne von deuten. Tacitus berichtet in seiner Germania von diesem Ritual:

    «Das Verfahren beim Runenlesen ist einfach. Sie {die Germanen} schneiden von einem fruchttragenden Baum einen Zweig ab und teilen ihn in mehrere kleine Stücke. Jene machen sie durch eingeritzte Runen kenntlich und streuen sie, wie es der Zufall will, auf ein weißes Tuch. Der Stammespriester betet bei einer öffentlichen Befragung zu den Göttern, bei einer privaten hingegen der Hausvater. Jener hebt zum Himmel blickend nacheinander drei Zweigstücke auf und deutet sie nach den eingeritzten Zeichen. Lautet das Ergebnis ungünstig, so findet am gleichen Tage keine Befragung mehr über denselben Gegenstand statt; lautet es hingegen günstig, so muss es noch durch weitere Vorzeichen bestätigt werden.»

    Letztlich hatten die aufgelesenen Runenhölzer also eine enge Verbindung zu den drei Nornen Urd, Verdandi und Skuld, die laut eddischer Überlieferung Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft repräsentieren und das Schicksal der Menschen bestimmen.

    Insel der nordischen Elite

    Für den Archäologen und Kurator des Museums Odense, Jakob Bonde, hat auch das «kleine Schwert» von Tietgenbyen etwas Magisches an sich. «Es ist, als ob man eine Nachricht aus dem Jenseits, aus der Vergangenheit erhält», zitierten ihn verschiedene Medien Ende Januar.

    Die Germanen sprachen den Runen magische Kräfte zu.

    Die Runenforscherin Lisbeth Imer vom Dänischen Nationalmuseum stimmt dem zu: «Es ist unglaublich selten, dass wir Runen finden, die so alt sind wie die auf diesem Schwert.» Zur nordischen Eisenzeit seien nur relativ wenige Menschen des Lesens und Schreibens mächtig gewesen, weshalb ein solches Objekt auf einen besonderen Status hindeute. «In der Frühzeit der Geschichte der Runen bildeten diejenigen, die schreiben konnten, eine kleine intellektuelle Elite, und die ersten Spuren dieser Menschen finden sich auf Fünen.» Genau dort, am Tor zu Andersens Märchenland, ist «hirila» jetzt zu bewundern.

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