Im Herbst 1918 wird in Prag ein tschechoslowakischer Staat ausgerufen, der die deutsche und slowakische Minderheit allerdings systematisch diskriminiert.  Hier lesen Sie den vierten Teil einer Serie zur sudetendeutschen Geschichte. Den ersten, zweiten und dritten Teil können Sie hier und hier und hier lesen. Die Vertreibung von über 14 Millionen Deutschen aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien und dem Sudetenland zählt zu den größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts. In der BRD-Erinnerungskultur findet ihr Leid keine angemessene Würdigung. Darum wollen wir an ihr Schicksal erinnern. Hier mehr erfahren.

    Wenn es nicht zur „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie der US-amerikanische Historiker George F. Kennan den Ersten Weltkrieg nannte, gekommen wäre, hätte das Habsburgerreich seine Nationalitätenprobleme wohl auf vorbildliche und demokratische Art und Weise gelöst. Ansätze dafür gab es schon -man denke nur an den im Jahr 1905 beschlossenen Mährischen Ausgleich (vergleiche hierzu den dritten Teil dieser Serie).

    Auftritt des Duos Masaryk und Benes

    Mit dem Attentat von Sarajevo vom 28. Juni 1914 auf den habsburgischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs werden die Karten dann allerdings ganz neu gemischt. Schon im Dezember 1914 geht Tomas G. Masaryk ins Exil, 1915 folgt ihm Edvard Benes. Diese beiden Männer sind die unbestrittenen Köpfe der tschechischen Nationalbewegung im Exil. Während Masaryk die von ihm selbst geschaffene Bewegung der Realisten anführt, die eher zentristisch eingestellt ist, entstammt Benes der tschechischen nationalsozialistischen Partei.

    Masaryk mit Tochter | Foto: Josef Jindřich Šechtl, CC BY-SA 3.0, Wikimedia Commons

    Beide scharen im Exil eine etwa 40köpfige und fast ausschließlich tschechisch dominierte Gruppe um sich, die sogenannte Maffia, die sich die Schaffung eines streng zentralistisch organisierten tschechoslowakischen Staates auf die Fahnen schreibt, ohne dabei irgendwelche Gedanken an die Minderheitenrechte der Slowaken und Deutschen zu verschwenden.

    Nach der Machtergreifung der Bolschewiki in St. Petersburg einigt sich Masaryk mit Lenin darauf, die Tschechoslowakische Legion – einen gegen das Habsburgerreich gerichteten Freiwilligenverband aus überwiegend tschechischen Kriegsgefangenen – mit der Transsibirischen Eisenbahn zu einem eigentlich vorgesehenen Kampfeinsatz an die Westfront zu transportieren. Doch den tschechischen Legionären gelingt es, große Teile der 9.000 Kilometer langen Eisenbahnstrecke de facto unter ihre Kontrolle zu bekommen.

    Die Annexion des Sudetenlandes

    Die tendenziell antibolschewistisch eingestellten Legionäre werden somit aus Sicht der Entente kurzfristig zu einem welthistorischen Faktor. Dies ist auch der vielleicht entscheidende Faktor dafür, dass das von Masaryk geführte tschechoslowakische Komitee als kriegsführende Macht durch die Entente anerkannt wird – ein Privileg, das beispielsweise den Jugoslawen nicht zuteil wird.

    Die Niederlage der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg wird von Masaryk und Benes im Oktober 1918 dann zur Proklamation der Tschechoslowakei genutzt.  Es folgt eine putschartige militärische Besetzung der sudetendeutschen Gebiete, die aus Sicht der Sudetendeutschen eine reine Annexion darstellt. Der schwachen, sozialdemokratischen Regierung von Deutschösterreich, die für sich natürlich auch die Oberhoheit über die sudetendeutschen Gebiete proklamiert, fehlt die Kraft, der Annexion wirksame Gegenwehr zu leisten und die deutschböhmischen Gebiete bei der Republik Deutschösterreich zu halten. Nur punktuell wird beispielsweise in Südmähren und auch an anderen Orten militärischer Widerstand gegen die De-Facto-Besatzung geleistet, der allerdings keinen Aussicht auf Erfolg hat.

    Das von der Nationalversammlung in Wien beanspruchte Gebiet von Deutschösterreich 1918 bis 1919. Foto: Von Kematen – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=128722370.

    So gelangen mehr als 50 Prozent der industriellen Kapazitäten der austriakischen Republik unter die Kontrolle des neuen Staates. Die Weltöffentlichkeit schaut auch weg, als am 4. März 1919 zahlreiche friedliche sudetendeutsche Demonstranten bei von den deutschösterreichischen Sozialdemokraten angemeldeten Protestdemonstrationen im ganzen Land von der neuen Obrigkeit brutal zusammengeschossen werden.

    Keine Volksabstimmungen im Sudetenland

    Mit gefälschten Karten gelingt es dem tschechischen Außenminister Edvard Benes bei den Pariser Verhandlungen, sich den Raub der besetzten Gebiete in dem im September 1919 unterzeichneten Vertrag von Saint-Germain auch noch bestätigen zu lassen. Anders als im Falle der Bildung Polens und Jugoslawiens wird von den alliierten Siegermächten in Böhmen dabei nicht auch nur eine einzige Volksabstimmung in den überwiegend deutsch besiedelten Gebieten abgehalten.

    Versprochen worden war den Sudetendeutschen eine zweite Schweiz, tatsächlich landen sie in einem Apartheid-System. Während die Tschechen in den Zeiten der Doppelmonarchie immerhin das Königreich Böhmen als Kern einer relativ starken politischen Selbstverwaltung hatten, sind die Sudetendeutschen ganz auf die kommunale Selbstverwaltung zurückgeworfen.

    Sudetendeutsche Not und Münchner Abkommen

    Dennoch versuchen sie über mehr als zehn Jahre, sich als gute Staatsbürger in einen ihnen feindlich gesonnenen Staat zu integrieren. Erst im Zuge der Weltwirtschaftskrise – drei Viertel der 700.000 Arbeitslosen der Tschechoslowakei sind damals Deutsche – explodiert die Zustimmung zur teilweise sezessionistisch, teilweise aber auch föderalistisch ausgerichteten Sudetendeutschen Partei (SdP) des Konrad Henlein.

    Diese wird bei den Wahlen 1935 zur stärksten Partei des Landes. 1938 spitzt sich die Situation weiter zu und scheint unvermeidlich auf einen neuen Krieg zuzulaufen. Doch gerade als die Wehrmachtsführung um Generaloberst Ludwig Beck deshalb gegen Adolf Hitler putschen will, geben die Westmächte überraschend nach. Am 29. September 1938 unterzeichnen der deutsche Reichskanzler, der britische Premierminister Neville Chamberlain, der französische Regierungschef Edouard Daladier und der italienische Duce Benito Mussolini im Führerbau der bayerischen Landeshauptstadt das Münchner Abkommen.

    Die Vertreibung der Sudetendeutschen

    Es macht den Weg für die Angliederung der sudetendeutschen Gebiete an das Reich frei. Ein halbes Jahr später ordnet Hitler die Besetzung der „Rest-Tschechei“ an. Die Slowakei wird damals erstmals in ihrer Geschichte unabhängig, aber auch Polen und Ungarn bedienen sich aus der Konkursmasse der Tschechoslowakei und nehmen – was heute häufig verschwiegen wird – Annexionen vor. Dem weitgehend in das Reich eingegliederten „Protektorat Böhmen und Mähren“ ist allerdings nur eine sechsjährige Lebensdauer beschieden.

    Mit der deutschen Kriegsniederlage 1945 beginnt die Vertreibung von drei Millionen Sudetendeutschen aus ihrer Heimat. Dabei kommt es insbesondere in Prag und Aussig, aber auch im Zuge des Brünner Todesmarschs zu unbeschreiblichen, öffentlich begangenen Grausamkeiten, die jede Vorstellungskraft übersteigen. Obwohl die Mörder nie verurteilt werden, bekennen sich die Sudetendeutschen nach 1945 zum Gewaltverzicht und zum Dialog, warten allerdings bis heute auf die Aufhebung der diskriminierenden Benes-Dekrete in Tschechien.

    Die bisherigen Beiträge dieser Serie können Sie hier lesen: 1 I 2 I 3.

    Die Vertreibung von über 14 Millionen Deutschen aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien und dem Sudetenland zählt zu den größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts. In der BRD-Erinnerungskultur findet ihr Leid keine angemessene Würdigung. Darum wollen wir an ihr Schicksal erinnern. Hier mehr erfahren.

    4 Kommentare

    1. Wenn wir schon bei Geschichte sind: https://www.youtube.com/watch?v=WgK_L3Txi_A ("Mohammedaner der Waffen-SS, Deutsche Wochenschau 1942, originale Aufnahmen Zeitgeschichte in Bild und Ton")

      Die Slawen haben die Volksdeutschen in dem besagten Staatskonstrukt der Feindmächte des Deutschen Kaiserreichs einfach schlecht und ausbeutend behandelt. So entstand letztlich das Schutzgebiet Böhmen und Mähren im Großdeutschen Reich (ab 1938 mit den Alpen- u. Donau-Gauen).

    2. Die nach wie vor rechtskräftigen Beneš-Dekrete (auch Benesch-Dekrete) sind ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und seit Jahrzehnten der Hauptstreitpunkt zwischen Vertriebenenverbänden in Deutschland einerseits und der Tschechoslowakei bzw. deren Nachfolgestaaten Tschechei (Tschechien genannt) und der Slowakei andererseits. Die bis heute umstrittensten Erlässe sind die Dekrete Nr. 5/1945, Nr. 12/1945, Nr. 33/1945, Nr. 71/1945 und Nr. 108/1945, die den Entzug der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft und die Enteignung des Vermögens besonders der deutschen aber auch der ungarischen Minderheiten regelten. In der Vergangenheit hatte man die Aufhebung der Dekrete stets von einer Nichtigerklärung des Münchener Abkommens von 1938 ex tunc (also von Anfang an) abhängig gemacht. Das wurde jedoch von der Bundesrepublik Deutschland, nicht jedoch der ehemaligen DDR und auch von den Regierungen nach der deutschen Wiedervereinigung abgelehnt. Hauptgrund dafür sind jedoch vor allem die dann möglicherweise zu erhebenden erheblichen Entschädigungsforderungen der vertriebenen Deutschen und nicht etwa ein plötzlicher „Sinneswandel“ in der Politik des Besatzungskonstruktes BRD.

    3. „1918 wurde […] Mitteleuropa zerrissen und von einigen wahnwitzigen sogenannten Staatsmännern neu gestaltet. […] Diesem Vorgang verdankt die Tschecho-Slowakei ihre Existenz! Dieser tschechische Staat begann mit einer einzigen Lüge. Der Vater dieser damaligen Lüge hieß Benesch. Dieser Herr Benesch trat damals in Versailles auf und versicherte zunächst, daß es eine tschecho-slowakische Nation gebe. Er mußte diese Lüge erfinden, um der dürftigen Zahl seiner eigenen Volksgenossen einen etwas größeren und damit berechtigteren Umfang zu geben. Und die in geographischen und volklichen Hinsichten stets nicht sehr ausreichend bewanderten angelsächsischen Staatsmänner haben es damals nicht für notwendig befunden, diese Behauptungen des Herrn Benesch nachzuprüfen. Denn sonst hätten sie gleich feststellen können, daß es eine tschecho-slowakische Nation nicht gibt, sondern nur Tschechen und Slowaken, und daß die Slowaken von den Tschechen nichts wissen wollen […].“

    4. Spionageabwehr am

      Alles renkt sich wieder ein
      Auch dieses extreme Ungleichgewicht

      Wohl schon nächstes Jahr ist dann Wiederaufbau.